So manches Videospiel sorgt dafür, dass Geschichten über Paranoia, Ängste, politische Ränder und komplexe Machtverschwörungen im Mainstream stattfinden.
Von Dr. Helen Young und Associate Professor Geoff Boucher, ursprünglich am 31. Juli 2020 bei disruptr erschienen. Dr. Helen Young und Associate Professor Geoff Boucher arbeiten als Wissenschaftler*innen an der Deakin University’s School of Communication and Creative Arts und sind Fellows des Deakin Motion.Lab.
Ins Deutsche übersetzt von Tobias Eberhard.
Seit mindestens zwanzig Jahren lassen sich Verschwörungserzählungen in den Mainstream-Hits und Klassikern der Videospielindustrie wiederfinden. Obwohl es sich bei Videospielen um erfundene Geschichten handelt, werden durch sie dennoch Erzählungen über Korruption, geheime Absprachen und durch mächtige Eliten ausgeübte Kontrolle eingeführt und normalisiert – auch wenn zwischen ihnen und den konkreten Ängsten und politischen Kontexten der aktuellen Pandemie-Situation eine nur wenig offensichtliche Verbindung besteht.
Wenn einzelne Personen nicht über alternative Herangehensweisen zur Einordung von Geschichten und zum Verständnis von Geschehnissen verfügen, kann es leicht passieren, dass sie Verschwörungserzählungen als Abbilder der Realität akzeptieren. Verschwörungserzählungen rund um COVID-19 etwa haben ihre Wurzeln in Narrativen über Regierungsverschwörungen, die schon zu Vor-Corona-Zeiten am rechten Rand im Umlauf waren. Und diese Erzählungen können Auswirkungen in der „echten“ Welt haben, wie man gerade am Beispiel eines Fitnessstudios in Melbourne beobachten konnte, wo sich eine große Menge von Menschen versammelte, die das Tragen von Masken oder die Abstandsregeln nicht akzeptieren wollten.
Nicht an ein Setting gebunden
Weit verbreitete Elemente von Videospielen, wie das Erforschen einer neuen Welt zur Offenlegung ihrer inneren Beschaffenheit oder ein heroischer Spielcharakter, der gegen alle Widrigkeiten ankämpft, können sehr einfach für Verschwörungsnarrative ausgenutzt werden. Die heldischen Hauptfiguren enttarnen den Feind, widersetzen sich ihm und, wenn auch nicht immer, bezwingen ihn. Die Deus Ex- und Assassin’s Creed-Franchises gehören zu den erfolgreichsten Videospielserien aller Zeiten. Beide beinhalten auch Grundelemente von Verschwörungserzählungen des 21. Jahrhunderts, einschließlich korrupter Unternehmen und der Illuminati. Verschwörungsnarrative lassen sich auf eine Vielzahl von Settings anwenden: Deus Ex spielt in einer nicht allzu fernen dystopischen Zukunft, Assassin’s Creed hingegen umfasst ein ganzes Jahrtausend an historischen Handlungsorten. Auch sind diese Geschichten nicht auf ein Setting beschränkt, von abgebrühten Detektivgeschichten à la LA Noire und Max Payne über den Steampunk von Dishonoured bis zum japanischen Science-Fiction-Franchise Metal Gear ist alles mit dabei.
Vor diesem breiten Hintergrund der Normalisierung von Verschwörungserzählungen und angesichts all der Beispiele von Verschwörungsnarrativen in Spielen ist es nicht verwunderlich, dass einige davon für bestimmte politische Positionen instrumentalisiert werden können. Der Handlung von Deus Ex und seinem Nachfolger Deus Ex: Invisible War kommt im Kontext der COVID-19-Pandemie so etwa eine erschreckende Bedeutung zu. In Deus Ex wird im Rahmen einer finsteren globalen Verschwörung, die von pro-aufklärerischen Mächten gesteuert wird, eine Biowaffe – eine Pandemie – freigesetzt, was diesen Mächten erlaubt, die geheime Übernahme des US-amerikanischen Staates zu beginnen. Die weltweite Wirtschaftskrise in Folge der durch die Biowaffe ausgelösten Pandemie führt in Invisible War dann zur Einsetzung eines pro-globalen Militärregimes in den USA. US-amerikanische Patriot*innen leisten daraufhin Widerstand, indem sie einen bewaffneten Aufstand gegen den Staat und die US-Armee initiieren.
Von Vorteil für die neuen Rechten
Die aktuelle „Infodemie“, die sich aus Verschwörungserzählungen und Falschinformationen rund um das Coronavirus zusammensetzt, hat bereits dafür gesorgt, dass der Kampf gegen COVID-19 erschwert wird. Vielfach wurde die falsche Behauptung aufgestellt, das Virus sei aus einem Biowaffenlabor in Wuhan entkommen und China hätte, mithilfe der WHO, das Virus vorsätzlich freigesetzt, um eine weltweite Wirtschaftskrise herbeizuführen. Diese Verschwörungserzählungen knüpften dann an bestehende Verschwörungserzählungen des rechten Rands an, bei denen die Clintons und George Soros im Mittelpunkt stehen. Auch wenn viele der Falschinformationen über medizinische Maßnahmen in Bezug auf COVID-19 laut dem „Spiegel“ vom 12. April 2020 aus dem Umfeld des Moskauer Kreml stammen, entspringt die Verschwörung um die „von China bzw. der WHO freigesetzte Biowaffe / ausgelöste Wirtschaftskrise“ den USA. Es ist denkbar, dass die Quelle dieser Propaganda vor allem in der Alt-Right und den Milizorganisationen zu finden ist. Normalisierte Verschwörungserzählungen sind in der aktuellen Situation des weltweiten politischen Chaos und aufgrund von COVID-19 besonders gefährlich. Den politischen Absichten der extremen Rechten zum Umsturz der Demokratie kommt entgegen, dass das Vertrauen in Regierungen und gesellschaftliche Institutionen ausgehöhlt wird.
Es ist bei alldem besonders wichtig, die Wirkweise von Videospielen zu verstehen, denn die neofaschistische Alt-Right-Bewegung nutzt radikalere Gaming-Subkulturen als Waffe und rekrutiert über diesen Umweg Menschen für ernstzunehmende Milizorganisationen. Diese Milizen werden als „akzelerationistisch“ bezeichnet, was bedeutet, dass sie die Beschleunigung des sozialen Kollapses beabsichtigen, um eine Umgebung der politischen und sozialen Angst zu erschaffen, unter der ein ultrarechter Militärcoup oder ein reaktionärer Bürgerkrieg in den Bereich des Möglichen rückt. Deus Ex wurde unter anderem von Mitgliedern der internationalen neofaschistischen Gruppe „Atomwaffen Division“ gespielt. Ende 2019 wurden fünfzig ihrer Profile von der Online-Gaming-Plattform Steam entfernt, weil sie faschistische Symbole enthielten. Auch andere First-Person-Shooter, die von einem zweiten – entweder aktuellen oder zukünftigen – US-amerikanischen Bürgerkrieg handeln, wie etwa American Patriot und Freedom Fighters, konnte man in den Steam-Profilen der Atomwaffen Division vorfinden. Anfang dieses Jahres versuchte Timothy Wilson, ein Mitglied der Atomwaffen Division, einen Bombenanschlag auf ein Krankenhaus in Missouri zu verüben, das Coronavirus-Patient*innen behandelte. Seine Absicht war es, die Fallsterblichkeitsrate des Bundesstaats nach oben zu treiben. Dies ist ein Musterbeispiel für versuchten Akzelerationismus.
Der australische White-Supremacy-Terrorist Brenton Tarrant, der letztes Jahr in Christchurch 51 muslimische Menschen ermordete, war ebenfalls Akzelerationist. Tarrants Manifest strotzte nur so vor Memes und Internethumor und wurde für Seiten wie 4chan und 8chan verfasst, die viele Schnittpunkte mit Videospiel-Subkulturen aufweisen.
Heldennarrative gegen vermeintliche Eliten
Allein durch Videospiele wird niemand radikalisiert oder zur Gewalt verführt – auch nicht durch solche, die aktuelle politische Wahnzustände und Verschwörungserzählungen unmittelbar aufgreifen. Was sie jedoch bereitstellen, sind Modelle für die Gewaltausübung durch Individuen. Erzählungen von auf sich selbst gestellten Protagonist*innen, die gegen korrupte mächtige Eliten und geheime Verschwörungen ankämpfen, stellen imaginierte Held*innennarrative dar, die problemlos auf das Konzept des gewalttätigen „Einsamer-Wolf-Terrorismus“ übertragen werden können.
Der Sozialwissenschaftler Lew Wygotski, der das Spielen erforschte, behauptete, dass sich im Spiel die „Wünsche und Neigungen in Bezug auf das, was sich nicht unmittelbar umsetzen lässt“, manifestieren. Mit anderen Worten: Im Spielen können wir Fantasien ausleben, die wir sonst nicht ausleben können. Das bedeutet nicht, dass jede Person, die ein gewalttätiges Videospiel spielt, einen Mord begehen möchte, aber es legt nahe, dass uns die Geschichten, die besonders beliebt sind, einen Einblick in unsere kollektiven sozialen und kulturellen Ängste erlauben. Verschwörungserzählungen in Spielen lassen vielleicht vermuten, dass wir verunsichert ob der Tatsache sind, dass wir nicht wissen, wer denn „wirklich die Welt regiert“ und wie diese Personen ihre Macht möglicherweise einsetzen könnten. Bei den Geschichten, die die Reaktion auf diese Fragestellungen und den Widerstand gegen Unterdrückung thematisieren, handelt es sich jedoch üblicherweise um Erzählungen über individuelle Gewalt, und nicht über organisierten politischen Aktivismus und entsprechende Handlungen.
Gaming-Kontexte wie Deus Ex und andere Verschwörungserzählungen bieten eine kulturelle Umgebung, in der sich irrationale Narrative entfalten können. Wenn sie dann mit einer aufsteigenden autoritären Politik zusammentreffen, können diese Narrative als angedeuteter Aufruf zu gewalttätigen Handlungen fungieren. Doch selbst wenn die Verbindungen nicht so unmittelbar sind, so lässt die Normalisierung von Erzählungen über Korruption und geheime Absprachen mächtiger Personen Desinformationen doch glaubwürdiger erscheinen.