Wenn sich inner­halb kürzester Zeit unter einem Video Kom­mentare über Kom­mentare zu ein­er einzi­gen Per­son sam­meln, dann muss das nicht automa­tisch etwas Schlimmes bedeuten. Wenn sich der Inhalt dieser Kom­mentare aber zu einem guten Teil liest wie “Psy­cho alte”, “Ab in die Klapse mit der” oder “direkt weg­canceln das Vieh”, dann ist das, sehr vor­sichtig for­muliert, alles andere als ein gutes Zeichen. Noch weniger, wenn die Kom­mentare lang genug online sind, dass die Mod­er­a­tion längst hätte aktiv wer­den kön­nen. Und erst recht, wenn sie ein­fach nur die neueste Aus­prä­gung eines Musters sind, das sich jet­zt schon seit Monat­en so zieht.

Es geht um Kom­mentare unter einem Video eines Influ­encers über die Stream­erin Pia “Shur­jo­ka” Scholz, die seit nun­mehr 11 Monat­en auf Twitch, YouTube und Social Media mas­siv ange­fein­det wird. Es sind inzwis­chen mehrere hun­dert Videos über sie ent­standen, in denen sie immer und immer wieder ange­grif­f­en und der Ver­bre­itung von Lügen bezichtigt wird. Welch­er Lügen? Das ist wohl selb­st den Influ­encern inzwis­chen egal, die sie der Lüge bezichti­gen, denn es geht schon lange nicht mehr um echte Inhalte, son­dern um das Spek­takel, das sich darüber gener­ieren lässt. Shur­jo­ka anzu­greifen, erzeugt Aufmerk­samkeit und Aufmerk­samkeit bringt auf Twitch schlicht und ergreifend Geld – wie ein paar der reich­weit­en­stärk­sten Stream­er in dieser Dynamik inzwis­chen längst selb­st zugegeben haben.

Misogynie als Geschäftsmodell

Das, was hier passiert, ist eine Kam­pagne. Shur­jo­ka wird seit fast einem Jahr gezielt immer und immer wieder von densel­ben Leuten ange­gan­gen, die mit ihrem Hohn und ihrer Ver­ach­tung in aller Öffentlichkeit Geld ver­di­enen. Die offen zugeben, dass sie sie fer­tig­machen wollen und das mit scham­losen Lügen und Dif­famierun­gen recht­fer­ti­gen. Es gibt sog­ar Stream­er, die in den 11 Monat­en der Kam­pagne ihr gesamtes Stand­ing mit der Kam­pagne aufge­baut haben. Mit anderen Worten: Frauen­hass ist und bleibt lukrativ.

Denn nichts anderes ist die Kam­pagne. Sie ist ein antifem­i­nis­tis­ch­er Back­lash gegen eine Frau, die für alles ste­ht, was sich in den let­zten zehn Jahren im Stream­ing und anderen Teilen der Gam­ing-Öffentlichkeit geän­dert hat. Shur­jo­ka ist laut, kri­tisch, fem­i­nis­tisch und hat es geschafft, sich damit genau­so sehr wie mit ihren Spielestreams eine Plat­tform aufzubauen. Beim deutschen Com­put­er­spiel­preis dieses Jahr wurde sie genau deshalb sog­ar als Spielerin des Jahres aus­geze­ich­net. Kurz zuvor war sie eine der promi­nen­testen Stim­men in der Diskus­sion um Hog­warts Lega­cy und hat sich dabei immer wieder sol­i­darisch mit trans Per­so­n­en posi­tion­iert. Sie ist ein Beweis sowohl dafür, dass es Leute wie sie gibt, als auch dafür, dass viele andere ihren Posi­tio­nen zuhören und sie unter­stützen wollen.

Der Hass, der jet­zt seit Monat­en über ihr aus­gekippt wird, ist da nichts anderes als die hässliche Fratze des Män­ner­clubs, der das nicht ertra­gen kann und gemerkt hat, wie viel Geld sie damit ver­di­enen kön­nen, wenn sie ver­suchen, eine Frau vor den Augen ein­er grölen­den Menge den Löwen zum Fraß vorzuw­er­fen. Denn der Frauen­hass ist längst kein Beifang mehr, wenn er es je war; Er ist Geschäftsmod­ell, ein main­stream­tauglich­es  und pop­uläres Ein­fall­stor für recht­es und reak­tionäres Gedankengut, wie es manche Stream­er zu ihrem Marken­ze­ichen gemacht haben.

Plattformen reagieren kaum

Dabei sind wir schon lange nicht mehr an dem Punkt, an dem die Schuld für die fort­laufend­en Angriffe gegen Shur­jo­ka nur noch bei einzel­nen Stream­ern liegt, die sich als Rädels­führer des Mobs posi­tion­iert haben. Die Schuld liegt auch bei Twitch, die ganze 11 Monate gebraucht haben, um in irgen­dein­er Form einzu­greifen. Fern­er liegt sie bei YouTube, die eben­so untätig sind und wo genau­so als Mei­n­ung getarnte Ver­leum­dung gehostet wird, mit der einzelne Con­tent Cre­ators nicht nur Geld ver­di­enen, son­dern auch ihre Com­mu­ni­tys auf­s­tacheln. Sie liegt bei Social Media-Plat­tfor­men wie Tik­Tok oder Twitter/X, wo auch außer­halb von Streams munter weit­er gehet­zt wird und die ihre eige­nen Sper­run­gen im Zweifels­fall nicht aufrechter­hal­ten. Sie liegt bei den Zuschauer*innen, die noch applaudieren, während eine Frau öffentlich bedro­ht und belästigt wird.

Im Dezem­ber 2023 startete Shur­jo­ka einen Subathon auf Twitch, ein Langzeit-Stream­ing For­mat mit viel Com­mu­ni­ty-Inter­ak­tion. Obwohl Sie sich schon monate­lang kaum zu der Defama­tion Kam­pagne geäußert hat­te, wurde dieser Subathon Ziel Ihrer Peiniger. In ihrem Stream vom 06.12.2023 berichtet Shur­jo­ka dann umfassend davon, wie sie nicht nur seit Monat­en mit Lügen dif­famiert wird, son­dern auch bedro­ht und gedoxxt wurde, auf Neon­azi-Lis­ten gelandet ist, Gewalt­fan­tasien von ihrer Verge­wal­ti­gung und/oder Ermor­dung zugeschickt bekom­men hat, zur Verspot­tung ihrer Tren­nung mit Datin­gan­fra­gen und unge­fragten Penis­bildern über­schwemmt wurde und schließlich dafür, all das anzus­prechen, noch von einem Stream­er mit dem Spruch öffentlich ver­höh­nt wurde, dass ihre Trä­nen sein Gleit­gel seien. Das ist kein Stre­it zwis­chen Influencer*innen, die das Spek­takel eines Dra­mas zwis­chen unter­schiedlichen Com­mu­ni­tys aus­reizen. Das ist eine Kam­pagne, bei der auf eine Frau öffentlich so lange einge­treten wer­den soll, bis sie voll­ständig am Ende ist.

Der Stream­er, von dem besagter Gleit­gel-Spruch kam, ist Tim Heldt alias KuchenTV, der inzwis­chen immer­hin auf Twitch ges­per­rt wurde, nach­dem er sich erst stun­den­lang live vor 6000 Zuschauer*innen darüber lustig gemacht hat, wie Shur­jo­ka auf ihrem eige­nen Kanal davon erzählt, was sie seit Monat­en ertra­gen muss. Und als wäre das allein noch nicht genug, hat er sog­ar ein Trinkspiel daraus gemacht. Die Schwelle, bei der Twitch sich offen­sichtlich bemüßigt fühlt, auf ihrer eige­nen Plat­tform einzu­greifen, ist hoch, höher, als sie sein dürfte. Den­noch ist die Sper­rung ein Schritt in die richtige Rich­tung, auch wenn KuchenTV bere­its angekündigt hat, sie juris­tisch anfecht­en zu wollen. Sie wird aber auch so keinen Effekt haben, wenn das die einzi­gen Kon­se­quen­zen für den Mob und seine Anführer bleibt.

Vor allem verdeut­licht die gesamte Angele­gen­heit eins: Plat­tfor­men wie Twitch und YouTube haben rein gar nichts aus den let­zten zehn Jahren gel­ernt. Na gut, doch, sie haben gel­ernt, wie sie sich weit­er­hin möglichst unsicht­bar aus jed­er Ver­ant­wor­tung ziehen und den Anschein eines Meldesys­tems mit Kon­se­quen­zen erweck­en, das doch nur viel zu spät und viel zu sel­ten tat­säch­lich Kon­se­quen­zen nach sich zieht. Dieser Ein­druck deckt sich auch damit, dass wir bei bei­den Plat­tfor­men nachge­fragt haben, warum sie sich in dieser Sache so posi­tion­ieren, wie sie es tun, haben allerd­ings in bei­den Fällen bish­er (Stand: 20.12.2023) keine Antwort erhal­ten. Dabei ist bezo­gen auf die Meth­o­d­en oder die Dynamik nichts an der Kam­pagne gegen Shur­jo­ka neu. Eine Gruppe von Inter­net­per­sön­lichkeit­en, vor allem Män­ner mit einem mal mehr, mal weniger deut­lichen Ruf, edgy und pro­voka­tiv zu sein, ver­sam­melt sich, um ger­adezu obses­siv Inhalte zu pro­duzieren, mit denen sie über eine einzelne Frau herziehen, der sie Lügen vor­w­er­fen. Welche Lügen das sind, ist eigentlich fast schon egal, denn irgen­det­was find­et sich schon immer, das sich dann argu­men­ta­tiv in pseu­do-ser­iöse Worte gek­lei­det als “Kri­tik” vor der eige­nen Com­mu­ni­ty tar­nen lässt, aber eigentlich doch nie Kri­tik, son­dern Ver­leum­dung ist. Denn die von KuchenTV und Co. gegen Shur­jo­ka erhobe­nen Vor­würfe sind frei erfun­den und als solche Teil ein­er üblichen Ver­leum­dungstak­tik. Selb­st die Strate­gien in der Kom­mu­nika­tion sind für Inter­netver­hält­nisse uralt. Spricht das Opfer über die Gewalt, das es erfährt, wird es als hys­ter­isch, lügend und tox­isch dif­famiert. Weigert es sich, ein­er “Aussprache” mit einem der Wort­führer sein­er eige­nen Het­z­jagd zuzus­tim­men, wird in bester Täter-Opfer-Umkehr behauptet, es sei unkon­struk­tiv. Und zu allem Über­fluss greifen dann noch rei­hen­weise “unbeteiligte” Zuschauer*innen diese Ver­drehung der realen Dynamik auf und repro­duzieren das Strohman­nar­gu­ment von “zwei Seit­en” und “sie ist aber schon unsym­pa­thisch” oder was auch immer die aktuelle Ausrede ist.

Aufgewiegelte Communitys lassen sich für Angriffe einspannen

Tat­säch­lich hat dieses ewige Abar­beit­en an Shur­jo­ka direk­te Fol­gen, die sich nicht nur in den Com­mu­ni­tys der Leute äußern, die sich gegen sie posi­tion­ieren, son­dern auch Ein­fluss auf Shur­jokas eigene Präsenz online hat. Wir haben beispiel­haft die Kom­mentare unter YouTube-Videos von KuchenTV und Shur­jo­ka nach User*innen gefiltert, die zuerst bei KuchenTV und dann bei Shur­jo­ka kom­men­tiert haben und deren ältester Kom­men­tar je bei KuchenTV war, was ein Hin­weis dafür ist, dass sie Fans von ihm sind. Ver­gle­icht man die wöchentliche Anzahl von Kom­mentaren dieser User*innen auf bei­den Kanälen, wird deut­lich, dass diese Gruppe seit 2021 immer öfter bei Shur­jo­ka kom­men­tiert und ins­beson­dere inner­halb der ver­gan­genen Monate sich immer wieder sprung­haft ihrem Kanal zuwendet.

Kom­mentare von User*innen bei Shur­jokas Chan­nel, die zuvor bei KuchenTVs Chan­nel kom­men­tiert haben, auf dem Zeitstrahl.

Begren­zt man diese Auswer­tung basierend darauf auf das Jahr 2023, lassen sich diese plöt­zlichen Spitzen in der Anzahl von Kom­mentaren pro Woche sog­ar noch bess­er nachvol­lziehen. Vor allem kann man dann able­sen, dass es immer dann einen plöt­zlichen Anstieg an Kom­mentaren dieser Gruppe bei Shur­jo­ka gab, wenn KuchenTV ein Video hochge­laden hat, das sich schon im Titel auf sie bezog. Beson­ders deut­lich zu sehen ist das in der unten­ste­hen­den Grafik bei der Spitze Anfang Juni nach KuchenTVs Video am 31.05.2023 und nach dem Video am 11. Dezem­ber, wo die Kom­men­tarzahl der Accounts aus KuchenTVs Com­mu­ni­ty unter Shur­jokas Chan­nel die bei ihm jew­eils deut­lich übersteigen.

Zusam­men­hang zwis­chen Videos, in deren Titel KuchenTV Shur­jo­ka attack­iert, und Kom­men­tar­wellen aus sein­er Com­mu­ni­ty bei ihr.

Das bedeutet: Wenn KuchenTV ein Video über Shur­jo­ka gemacht hat, sind seine Fans auch auf ihrem Kanal aufge­taucht. Und es belegt Shur­jokas Aus­sage, dass sie genau dieses Auf­tauchen von KuchenTV-Fans nach solchen Videos, Streams oder Posts immer wieder zu spüren bekommt. Dabei han­delt es sich um die in den Grafiken sicht­baren Zahlen bere­its um die bere­inigten. Die Dunkelz­if­fer der Kom­mentare, die Shur­jo­ka oder der Plat­tform­be­treiber bere­its weg­mod­eriert hat, ist hier noch gar nicht mit sicht­bar, dürfte die Spitzen aber ver­mut­lich noch ein­mal deut­lich­er machen.

Nach dieser Dynamik und diesen Mustern haben sich schon vor fast zehn Jahren die Wort­führer von Gamer­Gate und ihre Anhänger*innen inter­na­tion­al auf Feminist*innen wie Ani­ta Sar­keesian gestürzt. Und egal, wie viel sich seit­dem vielle­icht geän­dert haben mag: Der Frauen­hass und Antifem­i­nis­mus, von dem damals Gamer­Gate getra­gen wurde, ist offen­sichtlich so alltäglich bis attrak­tiv, dass dieselbe Dynamik in Deutsch­land in ein­er Kam­pagne gegen Shur­jo­ka auftreten kann, ohne dass das über Monate auch nur irgen­deine Kon­se­quenz hat. Keine Ent­gleisung dieser Stream­er ist zu viel, damit die Zuschauer*innen ihnen weglaufen wür­den, also ist auch kaum eine Ent­gleisung für die Plat­tfor­men zu viel, die sie hosten.

Es wird nicht bei Shurjoka enden

Abge­se­hen von Shur­jo­ka als einzel­ner Stream­erin ist das Sig­nal, das damit gesendet wird, auch weit über dieses Beispiel und diese Kam­pagne hin­aus fatal. Shur­jo­ka ist eine Stream­erin mit Stand­ing im deutschsprachi­gen Raum. Ihr Kanal hat aktuell über 200.000 Fol­low­er, sie wird auch außer­halb von Twitch z.B. beim Deutschen Com­put­er­spiel­preis und selb­st in der all­ge­meinen Presse immer wieder als promi­nente Stream­erin und fem­i­nis­tis­che Stimme im deutschsprachi­gen Gam­ing wahrgenom­men, her­vorge­hoben und aus­geze­ich­net. Sie ist eine der weni­gen Frauen, die es geschafft haben, sich tat­säch­lich zu etablieren. Wenn ein höh­nis­ch­er Män­ner­club über sie her­fällt und scham­los ihre Com­mu­ni­tys so lange auf sie het­zt, bis sie selb­st sagt, dass sie eigentlich nicht mehr kann, dann ist das ein Sig­nal an alle Frauen wie sie: Es ist egal, wie weit du kommst. Es ist egal, wie viel du erre­ichst. Am Ende kann dich der Män­ner­club jed­erzeit ver­nicht­en, wenn er das will. Oder es wenig­stens versuchen.

Es bleibt inständig zu hof­fen, dass Twitch und YouTube endlich doch entsprechend der Ver­ant­wor­tung han­deln, die sie ohne­hin haben, und weit­ere beteiligte Kanäle sper­rt. Dass die Presse – inner­halb wie außer­halb der Twitch- und Gam­ing-Berichter­stat­tung – endlich auch dieses The­ma ern­ster nimmt und sich dafür nicht erst inter­essiert, wenn es zu spät ist. Shur­jo­ka hätte schon vor Monat­en eine bre­ite Front der öffentlichen Sol­i­dar­ität gebraucht und ver­di­ent gehabt. Es ist schlimm genug, dass dieser Moment ver­strichen ist, aber dafür haben u.a. Plat­tfor­men und Presse immer noch die Chance, das jet­zt zu ändern. Die Plat­tfor­men durch ein über­fäl­liges Ein­greifen, die Presse durch kri­tis­che Berichter­stat­tung, die Hass klar als Hass benen­nt. Wenig­stens das kön­nten wir näm­lich alle aus Kam­pag­nen wie Gamer­Gate gel­ernt haben: Sie enden nie, wenn ein Opfer sich zurückzieht und der Meute so weniger Angriff­spunk­te bietet, son­dern ziehen immer eine lange Spi­rale der Radikalisierung nach sich. Und die “anti­woke” Rhetorik gegen Shur­jo­ka und der zum Spek­takel aufgepeitschte Frauen­hass sind ein Parade­beispiel ein­er Mis­chung, die das Poten­tial für so eine Spi­rale hat.

Wer sich schon nicht mit Shur­jo­ka als Per­son sol­i­darisieren kann, sollte wenig­stens ein­se­hen, dass der Mob nicht zufrieden sein wird, wenn er mit ihr fer­tig ist. Das Geschäftsmod­ell Frauen­hass braucht immer ein Opfer. Und wenn die näch­ste Per­son ins Fadenkreuz genom­men wird, ist das vielle­icht jemand, der oder die einem selb­st näher ste­ht – oder im aller­schlimm­sten Fall man selb­st. Denn auch das ist klar: Je erfol­gre­ich­er und lukra­tiv­er Frauen­hass von etablierten Influ­encern ist, desto eher wer­den andere auf den Zug auf­sprin­gen und ihre anderen Kam­pag­nen starten – desto nor­maler wird solch­es Ver­hal­ten aber auch in deren Com­mu­ni­ty und damit weit ab von der Stream­ingöf­fentlichkeit auch im All­t­ag viel­er Frauen.