Der Vorwurf, Frauen würden Anschuldigungen gegen andere oder auch nur Berichte über ihre eigenen Sexismus-Erfahrungen erfinden, um Aufmerksamkeit zu generieren, ist nicht neu – auch nicht im Gaming. Gerade in Diskussionen um einzelne Streamerinnen, eSportlerinnen oder andere Frauen, die hier in der Öffentlichkeit stehen, kommen diese und ähnliche Argumente regelmäßig auf. Wir haben die gängigsten davon einmal zusammengestellt und auf Basis von Statistiken u.ä. auf Herz und Nieren geprüft.
Inhalt
Falschbeschuldigungen für Aufmerksamkeit?
Der Mythos der Falschbeschuldigung, insbesondere im Kontext von sexueller Belästigung, Übergriffen und Vergewaltigungsdelikten, ist ein weit verbreitetes und schädliches Missverständnis. Es wird oft behauptet, dass Frauen solche Anschuldigungen aus Aufmerksamkeitsgründen erheben, obwohl die Realität eine ganz andere ist.
In einem Artikel der Süddeutschen Zeitung wird dieses Thema ausführlich behandelt. Der Artikel stellt fest, dass die Angst vor Falschbeschuldigungen oft auftritt, wenn einem berühmten Mann sexuelle Gewalt vorgeworfen wird. Es wird darin jedoch auch betont, dass diese Ängste weitgehend unbegründet sind und oft auf einem verzerrten Selbstbild von Männern beruhen, die sich unter Generalverdacht gestellt sehen.
Die Realität ist, dass Falschbeschuldigungen für sexuelle Gewalt sehr selten sind. Je nach Untersuchung, Land und politischer Weltsicht der Autoren variiert der Anteil der Falschbeschuldigungen an tatsächlich angezeigten Vergewaltigungen zwischen zwei und acht Prozent. Der Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe setzt den Anteil der Falschbeschuldigungen in Deutschland bei drei Prozent an und beruft sich auf eine europaweite Studie zur Strafverfolgung von Vergewaltigung.
Es ist wichtig zu betonen, dass diese Zahlen nur die tatsächlich angezeigten Übergriffe betreffen. Der größte Teil der Vergewaltigungen wird gar nicht erst zur Anzeige gebracht. Die Dunkelziffer ist hoch. Eine Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aus dem Jahr 2004 gibt an, dass in 85,7% der Fälle sexualisierter Gewalt die Polizei nicht eingeschaltet wird.
Die polizeiliche Kriminalstatistik zählt im Jahr 2017 in Deutschland 11.282 erfasste Fälle von Vergewaltigung oder sexueller Nötigung und 11.444 Opfer. Sieben Prozent dieser Opfer sind Männer. Selbst wenn man ignoriert, dass die reale Zahl der Vergewaltigungen noch deutlich höher liegt, lässt sich die Aussage treffen, dass es für Männer wahrscheinlicher ist, selbst Opfer einer Vergewaltigung zu werden als fälschlicherweise einer Vergewaltigung beschuldigt zu werden.
Es ist daher wichtig, den Mythos der Falschbeschuldigung zu entlarven und zu verstehen, dass die meisten Anschuldigungen von sexueller Gewalt tatsächlich auf wahren Ereignissen beruhen. Es ist auch wichtig zu erkennen, dass die Anschuldigung solcher Verbrechen oft mit erheblichen negativen Folgen für die Anklägerin verbunden ist, einschließlich Stigmatisierung, Hass und Misstrauen, was die Idee, dass Frauen dies nur aus Aufmerksamkeitsgründen tun würden, noch unwahrscheinlicher macht.
Die Geschichte von Amber Heard und Johnny Depp ist ein prominentes Beispiel, das die Komplexität und die Schwierigkeiten bei der Aufdeckung von Fällen sexueller Gewalt verdeutlicht. Amber Heard, eine bekannte Schauspielerin, beschuldigte ihren damaligen Ehemann Johnny Depp, sie physisch misshandelt zu haben. Trotz der Tatsache, dass Depp vor einem Gericht in London als gewalttätig gegenüber Frauen verurteilt wurde, wird er in weiten Teilen der Gesellschaft immer noch als unschuldig angesehen, während über Amber Heard weiterhin Mythen und Halbwahrheiten kursieren.
Depp verlor sein Verfahren in Großbritannien, gewann jedoch in den USA. Experten führen dies auf mehrere Faktoren zurück, darunter die Tatsache, dass das Verfahren in den USA vor einer Jury und der “Öffentlichkeit” stattfand, während das Verfahren in Großbritannien nur vor einem Richter stattfand.
In den USA wurde die Strategie „Leugnen, Angreifen und Opfer und Täter umkehren” (DARVO) angewendet; die wir im folgenden Abschnitt genau erklären. Diese Strategie lenkt die Diskussion weg von der Frage, ob der Angeklagte Missbrauch begangen habe, hin zur Frage, ob das mutmaßliche Opfer glaubwürdig ist. Während Richter und Anwälte in Großbritannien diese Taktik erkannten und viele Beweise ablehnten, die nicht direkt die Frage klärten, ob Depp einen Angriff begangen hatte oder nicht, war diese Strategie gegenüber der Jury in den USA sehr effektiv.
Ein weiterer Unterschied war, dass der Prozess in den USA im Fernsehen übertragen wurde, was ihn zu einer Art „Unterhaltungsshow” machte, welche von Millionen von Menschen verfolgt wurde. Obwohl die Jury angewiesen wurde, nicht online über den Fall zu lesen, wurden sie nicht isoliert und durften ihre Telefone behalten.
Heard musste erheblichen Hass und Misogynie ertragen, sowohl von der Öffentlichkeit als auch von den Medien. Trotz der Beweise und der Unterstützung, die sie erhielt, wurde sie oft als Lügnerin dargestellt und ihre Glaubwürdigkeit wurde infrage gestellt. Dies zeigt, dass selbst bei einer bereits prominenten Person eine Anschuldigung immer etwas ist, das teuer bezahlt werden muss – so gut wie niemand würde das freiwillig auf sich nehmen.
Diese Situation unterstreicht die Notwendigkeit, den Mythos der Falschbeschuldigung zu entlarven und zu verstehen, dass die meisten Anschuldigungen von sexueller Gewalt tatsächlich auf wahren Ereignissen beruhen. Es ist auch wichtig zu erkennen, dass die Anschuldigung solcher Verbrechen oft mit erheblichen negativen Folgen für die Anklägerin verbunden ist, einschließlich Stigmatisierung, Hass und Misstrauen, was die Idee, dass Frauen dies nur aus Aufmerksamkeitsgründen tun würden, noch unwahrscheinlicher macht.
Was ist DARVO?
DARVO steht für „Deny, Attack, and Reverse Victim and Offender” (Leugnen, Angreifen und Umkehr von Opfer und Täter). Es handelt sich dabei um eine Verteidigungsstrategie, die häufig von Tätern von Fehlverhalten, insbesondere in Fällen von sexueller Belästigung oder Missbrauch, eingesetzt wird.
Die DARVO-Taktik besteht aus drei Teilen:
Deny (Leugnen)
Der Täter leugnet die begangene Handlung. Dies kann durch direkte Ablehnung der Anschuldigungen oder durch das Infragestellen der Glaubwürdigkeit oder der Motive des Opfers geschehen.
Nicht selten stellt der Täter dafür Teilaspekte einer Anschuldigung als Missverständnisse, Einbildungen oder bewusste Lügen des Opfers dar. Solche Teilaspekte lassen sich zumeist leichter leugnen lassen als die Gesamtaussage des Opfers. Gerade im Fall von sexueller Belästigung oder Übergriffen im sozialen Kontext gibt es nicht selten wenige öffentlich zugängliche Beweise. Das erleichtert das Leugnen und das Streuen von Zweifeln. Dem Opfer wird vorgeworfen Situationen mißverstanden zu haben oder es wird behauptet, dass sexuelle Handlungen einvernehmlich stattgefunden haben.
Nicht selten ist das Leugnen in eine „Nicht-Entschuldigung” (engl. „non-pology”) eingebettet: Eine Aussage, die formal eine Entschuldigung zu sein scheint und in der Beschuldigte nicht selten vage und unspezifisch Verfehlungen eingestehen („Ja, ich habe Fehler gemacht, aber…”). So wird vermeintliches Schuldbewußtsein vorgespielt und zugleich Argumente geliefert, dass der Beschuldigte doch Reue gezeigt hätte. Es ist ein Appell an die Emotionen des Publikums, die zum zweiten Teil der Strategie überleitet.
Attack (Angreifen)
Der Täter greift das Opfer an, oft durch Charakterangriffe (“ad hominem”), Beschuldigungen oder Versuche, das Opfer zu diskreditieren. Dies kann dazu dienen, das Opfer zum Schweigen zu bringen oder andere davon abzuhalten, dem Opfer zu glauben.
Dementsprechend können diese Angriffe in unterschiedlichster Form daherkommen: Vergangenes Verhalten des Opfers, dessen Auftreten, Aussehen, Aspekte seiner Identität oder deren Beziehungen werden als negativ dargestellt. Oft nimmt dies die Form von „Wie kann das Opfer dem Täter X vorwerfen, wenn das Opfer in der Vergangenheit Y gemacht hat?” an.
Diese Angriffe müssen dabei nicht einmal logisch mit den Anschuldigungen des Opfers zusammenhängen. Denn das Ziel der Angriffe ist es vor allem, emotional an das Publikum zu appellieren und es auf die Seite des Täters zu ziehen. Oder zumindest die Glaubwürdigkeit des Opfers zu untergraben.
Dies erleichtert den dritten Teil der Strategie.
Reverse Victim and Offender (Umkehr von Opfer und Täter)
Der Täter stellt sich selbst als das eigentliche Opfer dar und das Opfer als den eigentlichen Täter. Dies kann dazu dienen, Sympathie zu erzeugen und die Aufmerksamkeit von dem eigentlichen Fehlverhalten abzulenken.
Nachdem der Täter bereits Fehlverhalten geleugnet hat und das Opfer als unglaubwürdig, wenn nicht sogar böswillig dargestellt hat, wird der Fokus mit der Täter-Opfer-Umkehr nun vollständig auf das Verhalten des Opfers gelenkt: Der Täter appelliert an sein Publikum dessen vermeintliches Fehlverhalten zu thematisieren, statt sich mit den Taten des Täters zu beschäftigen.
Der im vorherigen Abschnitt beschriebene Vorwurf, dass Opfer nur Aufmerksamkeit auf Kosten des Täters erlangen wollten, ist dabei eine Form der Täter-Opfer-Umkehr. Der Täter stellt sich als Opfer einer böswilligen Kampagne dar, mit der das Opfer Ansehen oder Profit machen will. Natürlich gibt es viele andere Möglichkeiten eine Täter-Opfer-Umkehr zu inszenieren.
Vor allem ist die Täter-Opfer-Umkehr aber nicht selten mit einem direkten oder indirekten Aufruf an das Publikum aktiv zu werden (engl. „Call to Action”) verbunden. Das Publikum kann daran mitwirken, die Unschuld des Täters zu „beweisen”, das Opfer zu „überführen” oder zu „konfrontieren”.
Dies ist nichts anderes als ein Aufruf, das Opfer beispielsweise mit einem Social-Media-Shitstorm zu überziehen, es zu belästigen oder schlimmeres. Gerade für Täter mit einer großen Fangemeinde ist dies eine effektive Methode den öffentlichen Diskurs zu dominieren. Je mehr Fans des Täters dessen Angriffe verbreiten, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Anschuldigungen des Opfers keine Aufmerksamkeit mehr erhalten. Das Opfer wird dementsprechend effektiv mundtot gemacht.
Das bedeutet: DARVO ist eine mächtige Taktik, weil sie es dem Täter ermöglicht, die Kontrolle über die Erzählung zu behalten und das Opfer zu entmachten. Sie kann dazu führen, dass das Opfer sich schuldig, verwirrt oder entmutigt fühlt und möglicherweise aufhört, Gerechtigkeit zu suchen. Es ist daher wichtig, diese Taktik zu erkennen und sie nicht zuzulassen, dass sie die Wahrnehmung oder das Verständnis von Fehlverhalten verzerrt.
Frauen haben es doch viel leichter?!
Der Mythos, dass Frauen als Streamerinnen es leichter hätten als Männer, ist weit verbreitet, aber bei genauerer Betrachtung zeigt sich ein anderes Bild. Frauen, die auf Plattformen wie Twitch streamen, stehen oft vor erheblichen Herausforderungen und erleben regelmäßig Belästigungen und Missbrauch. Eine Umfrage ergab, dass 59% der Frauen ihr Geschlecht beim Online-Spielen verbergen, um Belästigungen zu vermeiden, da 77% der Frauen geschlechtsspezifische Diskriminierung beim Spielen erlebt haben.
Kaitlyn Siragusa, besser bekannt als Amouranth, ist eine prominente Streamerin und Internetpersönlichkeit, die sowohl für ihre Erfolge als auch für die Herausforderungen, denen sie gegenübersteht, bekannt ist. Sie ist eine der bekanntesten weiblichen Streamerinnen auf Twitch und hat sich einen Namen gemacht durch ihre Tanz‑, ASMR- und „Hot Tub”-Streaming-Inhalte. Vorwürfe gegenüber Amouranth sind oft misogyner Art, meist wird behauptet, sie würde Männern ‘Geld aus der Tasche’ ziehen, indem sie sich nur dafür bezahlen ließe, leicht bekleidet vor einer Kamera zu sitzen. Gelegentlich wird auch von “baiting” gesprochen, also dem Ködern von Männern zum Geldspenden, die sich dafür weitere Entkleidung erhoffen. Solche Vorwürfe sind gegenüber Sexworker*innen weit verbreitet. Sie stellen dabei vor allem das Konzept Internet-Sexwork falsch dar: Als “Ausnutzen” der Käufer oder Freier statt als Angebot einer Dienstleistung durch Sexworker*innen. Außerdem versuchen sie, durch Abwertung der eigentlichen Arbeit von Sexworker*innen diese als faul darzustellen. Dabei zeigen Statistiken und Interviews am Beispiel Amouranth, wie viel Arbeit in ihren Streams steckt: Ihre durchschnittliche Streamlänge war 2022 10,1 Stunden pro Video, sie selbst gibt an, in Hochzeiten 19 bis 20 Stunden am Tag zu arbeiten. Laut ihrer Streamingstatistik hat Amouranth 42 Prozent aller Stunden des Jahres 2022 gestreamt. Wie Vice dokumentierte, verbrachte Amouranth von 2017–2021 60 Prozent aller Tage mit Arbeit: Das sind 1055 von 1826 Tagen. Zum Vergleich: Eine durchschnittliche 5‑Tage-Arbeit kommt in fünf Jahren bei 30 Urlaubstagen und dem Bundes-Mimimum 9 Feiertagen auf 1105 Arbeitstage, in Bayern mit 13 Feiertagen wären es 1085. Amouranth ist also weit entfernt davon, “nicht zu arbeiten” – erst recht, wenn man bedenkt, dass ihre Streams im Durchschnitt bereits ohne Vor- und Nachbereitung länger sind als ein deutscher Arbeitstag.
Im Fall von Amouranth gingen die Anfeindungen sogar bis hin zu Brandattacken auf ihr Zuhause. Als die Streamerin in einem Video unter Tränen bekannt gab, dass ihr Ehemann sie mit manipulativem Verhalten und der Drohung, ihre Hunde zu töten, zu Teilen ihrer Arbeit gezwungen hatte, wurde auch das zum Ziel vom Hassattacken, denn eine so finanziell erfolgreiche Streamerin könne diesen Erfolg ja niemals nicht genießen, so die Scheinargumente.
Der Fall um Amouranth ist ein Paradiebeispiel dafür, dass der Weg für Frauen in der Streaming-Welt oft mit erheblichen Hindernissen und Herausforderungen verbunden ist. Der Mythos, dass Frauen es leichter haben, ignoriert die realen Probleme und Herausforderungen, denen sie gegenüberstehen, und untergräbt die Anstrengungen und Leistungen, die sie trotz dieser Hindernisse erbringen.
Gatekeeping: Frauen spielen nicht oder „nur” „anders”?
Der Mythos, dass Frauen weniger spielen als Männer, ist weit verbreitet, aber die Daten zeigen ein anderes Bild. Der deutsche Branchenverband game e.V. erfasst z.B. in seinen Jahrestatistiken auch immer das Verhältnis zwischen weiblichen und männlichen Spieler*innen. 2022 kam er auf einen Frauenanteil von 48%, wie auch schon im Vorjahr, und auch im internationalen Vergleich zeichnet sich schon länger eine gleichmäßige Geschlechterverteilung unter Spieler*innen ab.
Ein altes Gegenargument, mit dem diesen Statistiken oft widersprochen werden soll, ist, dass vielleicht der Anteil von Frauen, die irgendetwas spielen, grob bei der Hälfte liegen mag, aber Frauen selbstverständlich anderes als Männer und keine richtigen Spiele spielen würden. Echte Gamingkultur passiert in dieser Argumentation an den Konsolen, während Frauen dagegen nur in der Statistik auftauchen, weil sie viele mobile games wie z.B. Candy Crush spielen. Doch selbst dieses Argument lässt sich inzwischen mit harten Zahlen widerlegen: Laut dem Marktforschungsinstitut Circana, die regelmäßig den US-amerikanischen Spielemarkt untersuchen, sind z.B. im Jahr 2023 47% aller Konsolenspieler*innen in den USA weiblich und auch die Zahlen bei den Besitzer*innen unterschiedlicher Konsolen sehen ähnlich aus. Unter den Besitzer*innen der PlayStation 5 sind 41% Frauen, bei der Xbox sind es 45% und bei der Nintendo Switch 52%. Wie bei den Statistiken zu Spieler*innen im Allgemeinen rangiert also auch bei Statistiken zu den Konsolen der Frauenanteil bei Konsolen grob bei der Hälfte. Obwohl diese Zahlen also recht eindeutig sind und es auch schon vor ein paar Jahren waren, folgte auf die Veröffentlichung dieser Statistik trotzdem ein Shitstorm, in dem z.B. wieder die Behauptung aufkam, dass die Konsolenbesitzerinnen nur Mütter sein könnten, die diese Konsolen für ihre Kinder bzw. Söhne gekauft hätten. Diese Reaktion war vorhersehbar und hat keinerlei Datenbasis, aber sie verdeutlicht auch, wie Frauen selbst dann, wenn es belastbare Daten für ihr Interesse an Spielen und Gaming gibt, dieses Interesse an Spielen abgesprochen wird.
Das ist nicht neu: Videospiele wurden sehr lange nur oder wenigstens primär an Jungs und Männer vermarktet – Mädchen und Frauen kamen darin nicht als relevante Zielgruppe vor. Natürlich haben viele Frauen und Mädchen trotzdem auch schon damals gespielt, sie waren nur nicht diejenigen, die die Branche tatsächlich erreichen wollte. Das ging so weit, dass Spiele wie Barbie Fashion Designer, das 1996 zu einem Verkaufshit wurde und sich besser als viele Spieleklassiker der Zeit verkaufte, Schwierigkeiten hatten, überhaupt erst entwickelt zu werden und später sehr schnell vergessen wurden. Denn schließlich war Barbie ein Mädchenspiel und damit nicht wichtig für das, was die Videospielbranche als ihre Zielgruppe definiert hatte. Das Argument war und blieb, dass Frauen und Mädchen sich angeblich nicht für Spiele interessieren würden und man sie deshalb ignorieren könnte. Das widerlegen inzwischen nicht nur Statistiken darüber, wer was spielt, sondern auch historische Einordnungen von Spielen wie Barbie Fashion Designer, aber das Klischee von Gaming als Jungsspielzeug ist nicht nur branchengemacht, sondern auch zäh.
Diese Fokussierung auf Jungs und Männer hatte und hat ganz direkte Folgen, die bis heute oft für Gatekeeping genutzt werden: Spiele, die den Ruf haben, ein besonders weibliches Publikum zu haben, wird gerne abgesprochen, “richtige” Spiele zu sein. Das sieht man z.B. an Spielen wie Sims, das lange als digitales Puppenhaus verschrien war, aber auch ganzen Genres wie Dating Sims, Dressup-Spielen, Farmingsims oder mobile games im Allgemeinen. Diese Art Spiele wurden sehr lange nicht oder weniger ernst genommen, weil ihnen ein Ruf des Süßen, Pinken und Weiblichen anhing, während z.B. Shooter immer der Inbegriff von ernstzunehmenden Spielen waren. Barbie Fashion Designer z.B. verkaufte sich im ersten Jahr seiner Veröffentlichung besser als z.B. Quake oder Doom, während letztere Klassiker wurden, geriet aber Barbie lange in Vergessenheit. Und das, obwohl, die Mechaniken von Dressup-Games heute in den allermeisten “ernstzunehmenden” Rollenspielen oder Shootern fest verankert sind.
Tatsächlich legen solche Statistiken und Verkaufszahlen eher nahe, dass Frauen nicht unbedingt weniger spielen als Männer, sondern teilweise einfach nur andere Spiele bevorzugen oder sich Gaming-Communitys nicht sicher fühlen und daher dort weniger sichtbar sind. Die Gründe dafür können vielfältig sein: Viele Frauen erleben in Onlinespielen und Gaming-Communitys noch immer sehr viel Belästigung und Sexismus und meiden dadurch, selbst wenn sie kompetitive Spiele eigentlich mögen, aktiv manche Spiele, die als besonders toxisch gelten. Das beeinflusst direkt die Menge an Frauen, die z.B. online als Streamerinnen oder eSportlerinnen Sichtbarkeit erlangen wollen. Das bedeutet: Grob die Hälfte aller Spieler*innen sind Frauen, aber Frauen zahlen einen unverhältnismäßig höheren Preis dafür, dass sie öffentlich als Spielerinnen auftreten und so an Gamingkultur teilnehmen, weil sie nicht nur in der Öffentlichkeit stehen, sondern sich gleichzeitig mit Dingen wie dem Sexismus, der ihnen entgegen schwappt, auseinandersetzen zu müssen.
Am Ende ist es in der Regel egal, was Frauen tun oder nicht tun und was sie spielen oder nicht spielen, weil ihre Daseinsberechtigung in jedem Fall angezweifelt wird. Ein prominentes Beispiel für frauenfeindliche Angriffe auf Streamerinnen im deutschsprachigen Raum ist der Fall um Pia Scholz, auch bekannt als Shurjoka. Sie wurde von der Jury des Deutschen Computerspielpreises als Spielerin des Jahres für ihr anhaltendes Engagement ausgezeichnet, Gaming mit politischer Aufklärung zu verbinden. Trotz ihres Erfolgs und ihrer positiven Beiträge zur Gaming-Community musste sie erhebliche Kritik und Gegenwind aushalten, dass sie keine “echte Spielerin” wäre. Da wurde auf Twitter diskutiert, ob dieser Preis für sie denn gerechtfertigt sei, weil sie angeblich zu viel in der Kategorie “Just Chatting” streamen würde. Dass sie zu diesem Zeitpunkt beispielsweise auch schon 400 Stunden Crusader Kings 3 gestreamt hatte, spielte da plötzlich keine Rolle mehr. Eine vergleichbare pedantische Kritik mussten männliche Gewinner des Preises nie über sich ergehen lassen. Eine Frau kann eine ganze Karriere u.a. damit aufbauen, dass sie Spiele streamt, im Zweifelsfall ist sie in den Augen von Gatekeeper*innen sowieso doch nicht Spielerin genug.
Weitere nützliche Ressourcen und Hilfe zum Thema
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- Social-Media-Notfallkit von Keinen Pixel mit weiteren Links und Ressourcen zu Hass im Netz (Deutsch): https://keinenpixel.de/2021/12/13/social-media-notfallkit-was-tun-wenn-ihr-von-hatespeech-betroffen-seid/
- Zusammenfassender Artikel (Deutsch): Streamerinnen als Feindbild toxischer und reaktionärer Communitys. In: Belltower News, 16.08.2023. https://www.belltower.news/gamergate‑2–0‑streamerinnen-als-feindbild-toxischer-und-reaktionaerer-communitys-151601/.
- Ressourcen-Sammlung von OnlineSOS, inklusive Checklists u.ä. zum Verhalten bei verschiedenen Formen von Belästigung und digitaler Gewalt wie Doxxing u.v.m. (Englisch): https://www.onlinesos.org/
- Ressourcen-Sammlung von Crash Override (Englisch): http://www.crashoverridenetwork.com/resources.html
- Ressourcen-Sammlung der Games and Online Harrassment Hotline (Englisch): https://gameshotline.org/resources/
- Studie (Englisch): Nakandala, S., Ciampaglia, G., Su, N. und Ahn, Y. Y.: Gendered conversation in a social game-streaming platform. In: Proceedings of the International AAAI Conference on Web and Social Media 11,1 (2017), S. 162–171. DOI: https://doi.org/10.48550/arXiv.1611.06459. PDF: https://arxiv.org/pdf/1611.06459.pdf